Die Spur des Minnesängers
von Tim Pieper
Hartmann von Aue gilt als einer der bedeutendsten Künstler um 1200. Zu Lebzeiten muss er eine Berühmtheit gewesen sein und auch in der jüngeren Vergangenheit haben sich Schriftsteller wie z. B.
Thomas Mann von ihm inspirieren lassen. Obwohl seine Lieder und Verserzählungen umfassend überliefert sind, wissen wir über ihn nur wenig. Wie die meisten Menschen des 12. Jahrhunderts taucht er
weder in einem Taufbuch auf noch wird er urkundlich erwähnt. Mit diesem Artikel möchte ich aufzeigen, welchen Hinweisen ich für meinen historischen Roman „Der Minnesänger“ gefolgt bin, um seine
Lebensumstände zu rekonstruieren.
Ausgangspunkt der Recherche können nur die literarischen Zeugnisse sein. In seiner Verserzählung „Der arme Heinrich“ stellt sich Hartmann selber vor, indem er über sich sagt: „Ein ritter sô
gelêret was, / daz er an den buochen las, / swaz er dar an geschriben vant; / der was Hartman genannt. / dienstman was er ze Ouwe.“ Betrachtet man diese fünf Verse genauer, erweisen sie sich als
wahre Fundgrube und lassen folgende Schlussfolgerungen zu: Hartmann hatte offenbar eine Schulbildung, er gehörte dem unfreien Stand der Ministerialen an und er kam aus einer Ortschaft namens
Au.
Zur weiteren geographischen Eingrenzung kann Heinrich von dem Türlins „Crône“ (nach 1220) herangezogen werden, in der es in einer bewegten Totenklage heißt, dass „meister Hartman … von der Swâbe
lande“ gekommen sei. Das alte Stammesherzogtum Schwaben umfasste damals u. a. das heutige Südbaden, Teile von Württemberg, das bayrische Schwaben und die Ostschweiz. In diesem weitläufigen Gebiet
ein Ministerialengeschlecht aufzuspüren, dem Hartmann mit Sicherheit zugeordnet werden kann, ist nahezu unmöglich. „Von Ouwe“ ist ein „Allerweltsname“. Es bedarf daher weiterer
Anhaltspunkte.
Als äußerst hilfreich erweisen sich nun die Darstellungen Hartmanns in zwei alten Handschriften („Codex Manesse“ und „Weingartner Liederhandschrift“). Beide zeigen ihn als dahersprengenden
Reiter, der als Wappenzeichen weiße Adlerköpfe auf schwarzem oder blauem Grund trägt. Zu Hartmanns Lebzeiten war es nicht ungewöhnlich, dass abhängige Familien Teile des Wappens ihres
Fürstengeschlechts für das eigene Wappen verwendeten, um die Verbundenheit zu demonstrieren. Es drängt sich also die Frage auf: Welches einflussreiche Adelsgeschlecht stammte aus dem damaligen
Schwaben und hatte einen Adler als Wappentier?
Zum ersten Mal geraten die Zähringer in den Fokus. Sie unterhielten ihre Stammburg Ende des 12. Jahrhunderts in Freiburg i. Br. und hatten ein rotes Adlerwappen. Wenn man sich Freiburgs Umgebung
genauer ansieht, findet sich tatsächlich vor den Toren der Stadt eine Ortschaft, die den Namen Au trägt und die Sitz eines Ministerialengeschlechts war. Ab 1112 ist dort mehrmals ein „Heinricus
de Owen/Owon“ urkundlich belegt. Seine Erwähnung erscheint umso interessanter, wenn man berücksichtigt, dass Hartmann seinen Helden in der Verserzählung „Der arme Heinrich“ ebenfalls „Heinrich
von Ouwe“ nennt und seinen Wohnort mit „ze swâben gesezzen“ eingrenzt. Eine einheitliche Orthographie gab es damals noch nicht, so dass die unterschiedliche Schreibweise nicht ins Gewicht fällt.
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf: War der Genannte möglicherweise ein Vorfahr von Hartmann? Heute lässt sich nicht mehr beweisen, ob eine verwandtschaftliche Beziehung bestand und
ob der urkundlich belegte Heinrich und der Protagonist aus Hartmanns Verserzählung identisch sind, aber die Übereinstimmung ist auffällig.
Auch andere Hinweise deuten darauf hin, dass Hartmann ein Dienstmann der Zähringer war. Für seine höfischen Romane „Iwein“ und „Erec“ nahm er die Verserzählungen des altfranzösischen Dichters
Chrétien de Troyes als Vorlage. Handschriften waren damals sehr kostbar. Wieder drängen sich zwei Fragen auf: Woher nahm Hartmann die wertvollen Vorlagen? Und welcher Fürst hatte Verbindungen zum
französischen Adel?
Es sind wieder die Zähringer, die ins Blickfeld geraten. Im hohen Alter ehelichte Berthold IV. von Zähringen die erst 22-jährige Ida von Boulogne, die aus einer der vornehmsten Adelsfamilien des
Nachbarlandes stammte und schon früh mit der höfischen Kultur in Berührung kam. Über sie könnte Hartmann an die Romane des französischen Dichters gelangt sein. Gestützt wird diese Vermutung durch
die „Witwenklage“, ein bewegendes Lied, das Hartmann anlässlich des Todes seines Dienstherrn verfasste. In ihm stellt der Dichter die Hinterbliebene als jung an Jahren dar. Beim Tod Berthold IV.
von Zähringen im Jahre 1186 war Ida von Boulogne gerade mal 26 Jahre alt, sie war also zweifellos eine sehr junge Witwe.
Hat man sich erst einmal auf die Zähringer als Dienstherrengeschlecht und auf den Ort Au bei Freiburg i. Br. festgelegt, ergeben sich weitere Lebensumstände zwangsläufig. Sucht man z. B. in dem
herzoglichen Machtbereich nach einer Ausbildungsstätte, wo Hartmann unterrichtet worden sein könnte, kommt nur das Reformkloster in Sankt Georgen in Betracht, das als einzige Zähringervogtei auch
unfreie Schüler aufnahm.
Wenige Fakten, viele Schlussfolgerungen und einige Mutmaßungen bilden schließlich die Eckdaten von Hartmanns Biografie. Zur Vervollkommnung habe ich diese mit historisch bezeugten und relevanten
Ereignissen (Tübinger Fehde, Mainzer Hoffest, dritter Kreuzzug etc.) in Beziehung gesetzt, um ein Höchstmaß an historischer Realität zu erzielen. Auch ein kritischer Mediävist dürfte mir
zustimmen, wenn ich feststelle, dass sich Hartmanns Leben genauso zugetragen haben könnte, wie es in meinem historischen Roman „Der Minnesänger“ geschrieben steht.